Die Blumenbachsche Schädelsammlung
im Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen

Blumenbach

Die Sammlung

Im Wintersemester 1772 war Johann Friedrich Blumenbach (1752 - 1840) als fortgeschrittener Medizinstudent von Jena nach Göttingen gewechselt und bereits im darauf folgenden Sommersemester auf Empfehlung von Christian Gottlob Heyne, dem damaligen Direktor der Universitätsbibliothek, zum Verwalter des "Academischen Museums" der Universität Göttingen bestellt worden. Die damit übertragene Aufgabe, das eben erworbene Büttnersche Naturalien- und Münzkabinett zu ordnen und katalogisieren, kam seinem Interesse für Fragestellungen der im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Anthropologie sehr entgegen; schon im Jahr 1775 wurde Blumenbach an der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen mit seiner Dissertation zum Thema De generis humani varietate nativa (Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlecht) promoviert. Wahrscheinlich angeregt durch die Werke von Petrus Camper (Groningen) und Samuel Thomas Soemmerring (Kassel) konzentrierte sich Blumenbach in seinen anatomischen Studien bald auf den menschlichen Schädel als den Teil, den er für die Beschreibung der Verschiedenheiten als besonders geeignet ansah. Bis 1798 hatte er bereits 82 Schädel inventarisiert und beschrieben. Durch seine Dissertation und nachfolgende Publikationen erhielt Blumenbach rasch große nationale und internationale wissenschaftliche Anerkennung als Begründer der vergleichenden Anatomie und Anthropologie, und von seinen in- und ausländischen Schülern, Kollegen und Freunden (darunter Sir Joseph Banks, Baron Georg Thomas v. Asch, Alexander v. Humboldt, Johann Wolfgang v. Goethe, Franz Joseph Gall) bekam er immer wieder menschliche Schädel zugesandt. Noch in hohem Alter wurde ihm im Jahr 1834 vom Bayerischen König Ludwig I. der Schädel eines Etruskers aus einem Grab in Tarquinia übergeben.

Die wissenschaftshistorische Bedeutung der Blumenbachschen Schädelsammlung beruht darüber hinaus auf ihren zahlreichen kulturhistorischen Präparaten und Gegenständen. Ein ägyptischer Mumienkopf mit erhaltenen Bindenschichten, die wahrscheinlich von Blumenbach selbst bei einem Besuch in London im Jahr 1791 abgetragen worden waren, wurde von Thomas Turner aus dem Bestand der Royal Society 1796 an Blumenbach geschickt, und Goethe hatte von seiner zweiten Italienreise (1786 - 1788) einen Schädelabguss des italienischen Malers Raffaello Santi (Raffael) mitgebracht; die Zuordnung des Originalschädels, von dem der Abguss angefertigt wurde, ist allerdings nicht eindeutig.

Blumenbach war seit 1778 ordentlicher "Professor der Arzneikunde" an der Medizinischen Fakultät. Durch seine nahezu zeitgleich aufgenommene Prosektorentätigkeit und seine (allseits gerühmten) anthropologische Vorlesungen, später aber durch seine Forschungstätigkeit am menschlichen Skelett und seine Beteiligung an der Finanzierung des "neuen" Langenbeckschen Theatrum Anatomicum (fertiggestellt 1829) war er der Anatomie in besonderer Weise zugewandt. Nach Blumenbachs Tod im Jahr 1840 wurde die Schädelsammlung deshalb (nebst anderen Bestandteilen der naturhistorischen Sammlung) von der Universität erworben und vom damaligen Anatomen (und Chirurgen) Langenbeck in die Sammlung des Theatrum Anatomicum eingegliedert. In der Folge haben Langenbeck und seine Nachfolger im Amt, Jacob Henle, Friedrich Merkel und Hugo Fuchs die Sammlung ständig erweitert. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Sammlung unversehrt, da sie auf Betreiben des damaligen Anatomen Erich Blechschmidt in eine Gaststätte in Bremke in der Nähe von Göttingen ausgelagert worden war. Die Sammlung kann heute mit 840 Schädeln und Abgüssen als vollständig angesehen werden; insbesondere die fünf Schädel, die den von Blumenbach definierten Varietäten ("caucasisch", "mongolisch", "aethiopisch", "americanisch" und "malayisch") zugrunde liegen, befinden sich auch heute noch in der Sammlung. Leider ging der umfangreiche Katalog, der auch die Ergebnisse anthropologischer Untersuchungen anderer Autoren (z.B. von M. Wolfgang Hauschild) enthielt, im April 1945 bei einem Bombenangriff verloren. Auf manchen Schädeln befinden sich jedoch handschriftliche Aufzeichnungen von Blumenbach, sodass einige, wenn auch dürftige zeitgenössische Hinweise auf die Herkunft der Präparate erhalten sind.

Aktuelle Forschung

Alle Schädel aus vergangenen Kulturperioden stellen sog. biohistorische Urkunden dar. Die Blumenbachsche Schädelsammlung wird daher heute in der physischen Anthropologie, Paläopathologie, Ethnologie und Wissenschaftsgeschichte intensiv genutzt. Insbesondere sind die Schädel, die Spuren von Mangelernährung (z.B. Skorbut), Infektionskrankheiten (z.B. Syphilis) oder äußerer Gewalteinwirkungen (z.B. Trauma, Trepanation) aufweisen, wichtige Vergleichsfälle aus der späten Neuzeit für die medizinhistorische und paläopathologische Forschung. Zukünftig sollen auch innovative Techniken der Morphologie (bildgebende Verfahren) und der Biochemie (Proteine der Knochenmatrix und sog. alte DNA) angewandt werden. Das Langzeitprojekt "Johann Friedrich Blumenbach - online" der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften zielt auf eine umfassende digitale Präsentation und inhaltliche Würdigung des wissenschaftlichen Werkes Blumenbachs (http://www.blumenbach-online.de).

Universitäre Lehre und Öffentlichkeitsarbeit

Die Sammlung wird in der anatomischen, anthropologischen und besonders in der paläopathologischen Lehre eingesetzt. Mehrfach wurden einzelne Sammlungsstücke an internationale Ausstellungen verliehen. Zahlreiche Gäste aus dem europäischen Ausland und den USA haben bisher in der Sammlung gearbeitet.

Zugang

Die Sammlung ist im Zentrum Anatomie der Georg-August-Universität (Adresse: Kreuzbergring 36, 37075 Göttingen) untergebracht. Kontakt: Sekretariat im Zentrum Anatomie (Tel. +49 551 397000) sowie Prof. Dr. Dr. Michael Schultz (Tel. +49 551 397028).